Kinder wachsen draußen am besten

Diesen Satz habe ich vor 12 Jahren in einer Werbeanzeige für robuste Kinderkleidung gelesen. Meine dreijährige Tochter sollte bald in den Kindergarten kommen und ich war auf der Suche nach geeigneter Kleidung. Zum Schrecken meines Umfeldes hatte ich sie im örtlichen Waldkindergarten angemeldet. Es hagelte geradezu skeptische Kommentare:

Was spielen die Kinder denn ohne Spielzeug?                         
Da wird dein Kind aber oft krank sein!
Dort lernen die Kinder doch gar nichts für die Schule!
Die Kinder haben doch gar kein Klo!
Wohin gehen die Kinder wenn es regnet oder schneit?
Der ganze Dreck kommt mit nach Hause!

Zum Glück ließ ich mich nicht verunsichern und meine Tochter startete sowieso vorurteilsfrei ihre Waldkindergartenzeit. Sie spielte mit einem unbegrenzten Vorrat an Material, denn nichts war vorgegeben und die Fantasie regierte den Tag.

Bäume waren sowohl Kulisse, wie auch Versteck oder Klettermöglichkeit. Steine wurden gestapelt, Zapfen gesammelt, Erde diente als Baumaterial und Holz wurde vielfältig bearbeitet.

Die einzige Schwierigkeit mit dieser Art von Spielzeug hatten wir Eltern und zwar wenn wir in der Rinde, die wir im Rucksack fanden keinen Fotoapparat erkannten und folgerichtig von unserem Kind belehrt wurden.

Es gab also vielfältigere Spielmöglichkeiten, als es in klassischen Bau-, Puppen-, Kuschel- oder Leseecken zu finden gibt.

Meine Tochter war zum Erstaunen meines skeptischen Umfeldes äußerst selten krank und der Kinderarzt kannte uns nur von den Routine-Untersuchungen. Bei jedem Wetter draußen zu sein stärkt die Widerstandskraft, der Körper tankt Vitamin D und zudem verbreiten sich Krankheiten an der frischen Luft nicht so leicht wie in geschlossenen Räumen, das weiß seit Corona jeder.

Für die Schule war meine Tochter sehr wohl gut vorbereitet. Die Natur ist ein guter Ort, um zu lernen. Rechnen übte sie unter anderem, wenn sie Nüsse abzählte. Die Grundlagen für das Schreiben eignete sie sich z.B. mit Stöcken an mit denen sie in den Sand zeichnete. Heimat und Sachkundeunterricht begegnete ihr täglich, wenn sie Tiere oder Pflanzen im Jahreskreis beobachtete. Fitter als jeden Tag mit Rucksack durch den Wald zu marschieren, dort zu klettern und Abhänge hinunterzukullern, hätte meine Tochter kein Sportunterricht in einem Kindergartenraum gemacht.

Das mit dem Klo verhielt sich so: Meine Tochter weigerte sich lange Zeit auf Gemeinschaftstoiletten wie sie in Schwimmbädern oder aber in Kindergärten vorhanden sind zu gehen. Die Pinkelstelle im Wald nutze sie jedoch ganz selbstverständlich. Ich konnte sie nur zu gut verstehen.

Das Wetter kann sein wie es will, es gibt immer geeignete Kleidung. Zudem bietet Regen oder Schnee viele Spielmöglichkeiten, wie etwa Mini-Flüsse in den Matsch ziehen oder Schneeburgen bauen. War jemand durchgeweicht, gab es einen Bauwagen in dem Ersatzkleidung bereitlag. Dort konnten sich frierende Kinder auch mal aufwärmen und dort wurde auch bei sehr kalten Temperaturen gegessen. Gegen Regen auf dem Pausenbrot wurde dagegen oft nur eine Plane über den Platz gespannt.

Dem Thema Dreck entgegne ich das Zitat von Maria Montessori: „Wenn Sie Ihr Kind heute sauber aus der Kita abholen, dann hat es nicht gespielt und nichts gelernt.“ Dem entsprechend konnte ich jeden Tag einen Lernfortschritt bei meinem Kind beobachten. Im Laufe der drei Kindergartenjahre begegnete mir jede Art von Erde oder Pflanzenteilen auf meiner Tochter. Es lohnte sich also, sich schnell eine Technik anzueignen, das Kind noch bevor es in das Haus kam, umzuziehen. Die Eltern, die ihr Kind mit dem Auto abholten, verfügten über Wechselkleidung und Schmutzwanne im Kofferraum. Ich kam meist mit dem Rad und zog meine Tochter im heimischen Keller um. Die Kleidung wurde oft nur ausgeschüttelt oder abgebürstet, statt gewaschen und damit fiel die Schmutzwäsche nicht ins Gewicht.

Ob nun alle Kinder draußen am besten wachsen, kann ich nicht beurteilen. Meine Tochter jedenfalls entfaltete sich sowohl körperlich, als auch seelisch und verstandesmäßig wunderbar. Die Kindergärtnerinnen des Waldkindergartens schenkten ihr die Freiheit sich nach ihren Fähigkeiten zu entwickeln und unterstützen sie mit dem aus der Montessori-Pädagogik stammenden Grundsatz: „Hilf mir, es selbst zu tun.“  Die Natur stärkte sie mit Sonnenlicht, Kontakt zur Erde, Wind und Regen. Die anderen Kinder schulten ihren Sinn für Gemeinschaft. Durch das tägliche hautnahe Erleben des Jahreskreises ordnete sie sich ganz selbstverständlich in den Lauf der Welt ein.

Der Waldkindergarten passte sich mit den Jahren an veränderte Elternwünsche und dem Zeitgeist an. Mein jüngster Sohn kam vor drei Jahren in den Waldkindergarten. Alles, was ich Positives aus der Kindergartenzeit meiner Tochter kannte hatte sich nochmals verbessert. Vor allem hatten wir das besondere Glück, wundervolle Menschen als Kindergärtnerinnen zu erleben. So profitierte sowohl mein Sohn, wie auch ich, sehr von der kompetenten, zugewandten, klaren Art des Teams, das sich gut versteht und aufeinander eingespielt ist.

Möglicherweise wachsen also nicht nur Kinder draußen am besten, sondern auch Kindergärtnerinnen.

Vielen Dank für eine wundervolle Zeit bei und mit Euch!

Eva Albert